Die Stadtschreiberin Annette Leo hat sich bei ihrer Abschiedsvorstellung auf die Spuren ihrer Vorfahren begeben.
Jürgen Rammelt
(aus: Ruppiner Anzeiger; 13.12.2022)
Rheinsberg. Die Resonanz war gewaltig. Über 50 Zuhörer waren am Donnerstag der Einladung in die Remise am Schloss gefolgt, um bei der Abschiedslesung von Annette Leo dabei zu sein. Die studierte Historikerin, Publizistin und Autorin, die als 56. Stadtschreiberin fünf Monate im Marstall in der Prinzenstadt gewohnt hat, ist keine Unbekannte. Immerhin hat sie mit einer viel beachteten Biografie über Erwin Strittmatter sowie einer biografischen Geschichte über eine Sinti-Familie und weiteren Arbeiten für literarisches Aufsehen gesorgt.
Während Ihres Aufenthalts in Rheinsberg hat sich Annette Leo auf ein schwieriges familiäres Terrain begeben. Ihr Großvater, Dr. Wilhelm Leo hat bis zu seiner Vertreibung 1933 als anerkannter Rechtsanwalt in dem brandenburgischen Provinzstädtchen gelebt. Am Donnerstag berichtet dann die Autorin, dass ihr Großvater 1926 mit seiner Frau Frieda nach Rheinsberg gezogen war. Obwohl er konfirmiert war, war Leo jüdischen Glaubens [Korrektur SGR: Er war kein Jude, sondern evangelischer Christ. Bereits vor 1914 waren seine Mutter, Wilhelm Leo und seine Brüder gemeinsam zum evangelischen Glauben konvertiert. Die Familie Leo stand spätestens in Wilhelms Generation dem jüdischen Glauben „völlig fern“. (Böthig, Peter; Oswalt, Stefanie: Juden in Rheinsberg. S.96)], was ihm nach der Machtergreifung zum unerwünschten Deutschen machte [Korrektur SGR: Im Bezug auf Juden und Jüdinnen oder diejenigen, die sie dafür hielten, waren Religionszugehörigkeit und Glaubenspraxis keine Kriterien der Nationalsozialisten, um jemanden zur völkisch(-rassistisch) definierten „Volksgemeinschaft“ zu zählen. Wilhelm Leo wurde von den Nazis zum Juden erklärt, weil er familiäre jüdische Wurzeln hatte - unabhängig davon, ob er selbst sich als Jude identifizierte oder woran er glaubte. Noch wichtiger dürfte für seine einen Monat nach der Machtergreifung einsetzende Verfolgung gewesen sein, dass Leo in den späten 1920ern einen Prozess gegen Joseph Goebbels gewonnen hatte. (Böthig; Oswalt: S.99f)]
Annette Leo, die viel über ihre Großeltern von Ihrem Vater Gerhard Leo, einem Journalisten, der sich in Frankreich der Resistance anschloss [Korrektur SGR: Gerhard Leo war zehn Jahre alt, als er mit seiner Familie nach Frankreich floh, wo nach Kriegsausbruch sein Vater interniert wurde und Gerhard nur dank der Résistance entkam, der er sich daraufhin anschloss. Nach dem Krieg kehrte er nach Deutschland zurück, wo er als Journalist zuerst in der BRD und ab 1955 in der DDR arbeitete. (Böthig; Oswalt: S.103, 105f)] erzählt bekommen hat, berichtet, dass sie beim Verein Stadtgeschichte Rheinsberg Leute getroffen hat, die ihr bei der Recherche zu ihrer Familie geholfen haben. Einige davon, wie Doris Lippuner, Klaus Albrecht und Helmut Plunze sitzen unter den Zuhörern. Auch der Hobby-Historiker Wolfgang Buwert, ein ehemaliger Rheinsberger, der heute in Frankfurt (Oder) wohnt, konnte aus Erzählungen seiner Vorfahren einiges zur Geschichte der Familie Leo beitragen.
Nicht alles, was Annette Leo von ihrem Großvater erfahren hat, scheint zu stimmen. Aber fest steht, dass es im bis dahin „roten“ Rheinsberg mit der aufkommenden Naziherrschaft Kräfte gab, die sich gegen die Juden stellten. Im Oktober 1930 gab es bereits eine Ortsgruppe der NSDAP und einen Monat später einen Aufruf, in jüdischen Geschäften nicht mehr einzukaufen. Da[s] hatte zur Folge, dass auch immer weniger Leute, die Dienste eines jüdischen Rechtsanwalts und Notars oder auch Arztes in Anspruch nahmen.
Es ist eine spannende Geschichte, die Annette Leo im Rheinsberger Bogen, einem Heft, das jeder Stadtschreiber am Ende seines Aufenthalts hinterlässt, niedergeschrieben hat. Vor allem in der Zeit von 1930 bis zur absoluten Machtergreifung der Nazis 1933 entwickelte sich ein regelrechter Judenhass, der dazu führte, dass Wilhelm Leo festgenommen und eingesperrt wird. Die Enkelin berichtet von späteren Selbstmordversuchen ihres Großvaters und von der gelungenen Flucht nach Frankreich. Dabei haben ihm Rheinsberger und Berliner Freunde geholfen.
Zum Glück entgehen die Leos einer Deportation in ein Vernichtungslager. In der Stadt Rheinsberg gibt es seit Oktober 2020 Jahren sogenannte Stolpersteine, die unter anderem vor dem ehemaligen Haus der Leos in der Dr.-Martin-Henning-Straße, auch an deren Familie erinnern. Annette Leos Großmutter Frieda, die keine Jüdin war, lebte später in Hamburg und Düsseldorf. Wilhelm Leo, hat den Krieg überlebt. Doch er stirbt am 12. November 1945 im Pariser Exil. In seinem letzten Brief an seine Frau trägt er sich mit dem Gedanken, in Berlin oder Hamburg wieder als Richter oder Staatsanwalt zu arbeiten. Was bedeutet: Nach Rheinsberg möchte [er] nicht wieder. jr
[Bildunterschrift:] Über 50 Zuhörer waren der Einladung in die Remise gefolgt, um bei der Abschiedslesung von Annette Leo dabei zu sein. FOTO: JÜRGEN RAMMELT