Vorliebe für schwierige Biografien. Rheinsberg Stadtschreiberin Annette Leo hinterfragt Mythen
Frauke Herweg
(aus: Märkische Allgemeine; 31.08.2022)
Rheinsberg. Annette Leo hat ihren Großvater Wilhelm nie getroffen. Der jüdische Anwalt, der 1933 mit seiner Familie aus Rheinsberg fliehen musste, starb drei Jahre vor ihrer Geburt im Pariser Exil. Annette Leo kennt Wilhelm Leo nur aus Erzählungen. Mitunter idealisierenden Erzählungen, wie sie inzwischen weiß. Seit Anfang August ist die 1948 geborene Historikerin und Publizistin Stadtschreiberin von Rheinsberg. Bis Dezember will die Berlinerin ihre Recherche über ihren Großvater fortsetzen und an einem Buchprojekt über die Familie Leo arbeiten. Es ist der Versuch, die Mythen und Geheimnisse, wie es sie in jeder Familie gibt, aufzudecken. Kein einfaches Unterfangen. In seinen Erzählungen hat Annette Leos Vater Gerhard ein Bild erschaffen, das dem echten, durch die Zeit im KZ gebrochenen Vater möglicherweise wenig entsprach. „Er hat aus einem gebrochenen Vater einen starken Vater gemacht", sagt Annette Leo. Auch politisch hat ihr Vater den Großvater vermutlich falsch beschrieben. „Es hat ihn viel weiter links verortet, als er wirklich war", sagt Annette Leo. „Er hat versucht, einen Sozialdemokraten aus ihm zu machen." Tatsachlich hat Annette Leo jedoch Hinweise darauf gefunden, dass ihr Großvater vor der Machtergreifung der Nazis Mitglied der bürgerlich-rechten Wirtschaftspartei war. Was ist erwiesen? Was möglicherweise nur Erzählung und Wunschbild? Und vor allem: Welche Motive gab es für diese Familienlegende? Für die Historikerin Annette Leo, die sich viel mit Erinnerung und erzählter Geschichte beschäftigt hat, vertraute Fragen. Bisher gilt als belegt, dass Wilhelm Leo Ende der 20er Jahre einen Prozess gegen Joseph Goebbels gewonnen hat. Eine Geschichte, die auch Annette Leos Vater Gerhard Berne erzählte. Belege für diesen Prozess hat Annette Leo bisher nicht finden können. Möglicherweise, so vermutet sie, gab es nur einen außergerichtlichen Vergleich. „Kein Mensch denkt sich eine solche Geschichte aus.'' 1926 war Wilhelm Leo mit seiner Familie nach Rheinsberg gekommen. Leo, der zuvor in einer grol3en Berliner Kanzlei gearbeitet hat, eröffnete eine eigene Praxis in der heutigen Dr. Martin-Henning-Straße 32. Im Haus der Leos blüht ein reiches kulturelles Leben. Wilhelm Leo, der selbst gerne Klavier spielt, lädt zu musikalischen Abenden ein. In der Familienerinnerung sind die Jahre in Rheinsberg eine paradiesische Zeit gewesen - mit Ausflügen in märkische Kiefernwälder, Waldmeisterlimonade und illustren Gästen wie Alfred Doblin. Im Oktober 2020 waren vor dem einstigen Haus der Leos auf Initiative des Tucholsky-Literaturmuseums und der Kirchengemeinde Stolpersteine verlegt worden. Annette Leo selbst hat das Haus ihres Großvater erstmals Ende der 1950er Jahren gesehen, als sie mit ihrer Familie eine Stippvisite in Rheinsberg machte. Lange hielt sie sich dort nicht auf. Für den Vater, der das Haus zum ersten Mal nach der Flucht aus Deutschland wieder-sieht, war der Anblick offenbar schmerzhaft. „Wir sind gleich wieder abgefahren. " Für Annette Leo war Vater Gerhard - ein ehemaliger Resistance-Kampfer und Journalist - immer eine Autoritätsfigur, auch wenn sich Vater und Tochter in den 1980er Jahren in der Diskussion über den DDR-Sozialismus entfremdeten. Annette Leo hatte Zweifel am realen Sozialismus, ihr Vater ließ jedoch keine Kritik zu. Die Arbeit an dem Buch sei auch eine Aufarbeitung ihrer ganz persönlichen Vatergeschichte, sagt Annette Leo. „Der ganze Respekt wird abgewickelt. " Annette Leo hat in ihren Büchern immer wieder die jüngste Vergangenheit aufgearbeitet. Sie schrieb zuletzt ein Buch über Willy Blum, der als Kind einer Wandermarionettenspieler-Familie in Auschwitz ermordet wurde. Vor zehn Jahren erschien ihre hochgelobte Erwin-Strittmatter-Biografie, die auch Strittmatters Mitgliedschaft in einem Polizei-Gebirgsjäger-Regiment während des Krieges und seine Selbstumdeutung zum Antifaschisten untersucht. „Ich habe eine gewisse Übung in der Dekonstruktion von Mythen" sagt Annette Leo. „Eine gewisse Vorliebe für schwierige Biografien. " Im Kreisarchiv in Neuruppin und in der DATENBANK DES VEREINS FÜR STADTGESCHICHTE RHEINSBERG hofft Schriftstellerin Annette Leo Hinweise auf die Biografie ihres Großvaters zu finden. Doch setzt Annette Leo auch auf die Rheinsberger und ihre Erzählungen. Inzwischen hat sie mit einer älteren Dame gesprochen, deren Schwiegervater einst die Leos unterstützte. „Es ist Erinnerung da. "
Bild oben: Die Schriftstellerin Annette Leo ist seit 1.August Stadtschreiberin in Rheinsberg. Sie erforscht dort auch das Leben ihres Großvaters Wilhelm Leo, der 1926 mit seiner Familie nach Rheinsberg kam und von dort 1933 vor den Nazis fliehen mußte. Zitat mittig: LEUTE, LEUTE Ich habe eine gewisse Übung in der Dekonstruktion von Mythen. Annette Leo Publizistin