Verlief die Umbruchszeit 1989/90 in der Kleinstadt anders als in Berlin oder Leipzig? dieser Frage nährt sich der Historiker Sebastian Stude in einem Buch, das auch viele Erinnerungen von Rheinsberg dokumentiert
Celina Aniol
(aus: Märkische Allgemeine; 11.03.2021)
Rheinsberg. Die Stimmbandkrankheit brachte die Revolution nach Rheinsberg. Gewissermaßen. Denn hätte Hans-Norbert Gast das Leiden nicht gehabt, wäre er 1989 nicht zur Behandlung in Berlin gewesen. Der damalige Lehrer hätte dann vermutlich auch nicht den Weg zur Gethsemanekirche gefunden und nicht die Schreckenserzählungen von Menschen gehört, die sich trotz allen Stasi-Terrors für die Veränderungen in der DDR einsetzten. „Ich wäre vielleicht auch nicht derjenige gewesen, der hier etwas angeschoben hätte", sagt der Rheinsberger im Rückblick. Hans-Norbert Gast, der zuvor das Falten , eines Wahlblatts schon als Protesthandlung verstand, war aber krank — und brachte das Virus der Auflehnung in die Provinz. Rheinsberg sei damals ein bisschen wie „ Streichel-Zoo" gewesen, berichtet seine Frau Dorothea Gast. Unsere schöne Natur, alles geregelt, alle gesund. Und dann plötzlich brach 80 Kilometer von uns entfernt etwas auf. Da sind wir wachgerüttelt worden." Die beiden bastelten eine Info-Mappe, reichten sie zuerst im Freundeskreis herum, gingen dann aber schnell an die Öffentlichkeit, organisierten eine Friedensandacht, gründeten mit anderen das Neue Forum in der Stadt, waren dabei, als die Vorwürfe vom Wahlbetrug laut wurden, luden zum Runden Tisch ein. Sehr eindringlich erzählt das Paar nun von diesen Ereignissen und davon, wie es diese Zeit heute beurteilt. Der Bericht steht aber nicht allei-ne da. Er ist Teil des neu erschienenen Buches „Heimat und Revolution. Rheinsberg 1989/90", das vom Verein Stadtgeschichte Rheinsberg herausgegeben wurde. Der Autor -Sebastian Stude hat dafür eine ganze Reihe von Zeitzeugen vieler Couleur interviewt, 4e in der Stadt lebten und damals unterschiedliche Rollen im Prozess des friedlichen Umsturzes spielten. Diesen Gesprächen hat er viel Platz eingeräumt. So wird dem Leser ein ganzes Panorama der damaligen Zeit präsentiert. Da ist nicht nur die Rede von der Anklage gegen den SED-Bürgermeister wegen Wahlfälschung 1989, sondern auch von Lieferengpässen, von den Träumen der jungen Generation, vom Eingesperrt-sein im System und dem Sich-Arrangieren mit ihm. Daneben skizziert Stude die geschichtliche Chronik dieser Jahre in Rheinsberg und belegt sie mit Originaldokumenten. Mit der Friedlichen Revolution beschäftigt sich der Historiker schon lange. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Potsdamer Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße, hat seine Promotion aber über das Rheinsberger Kernkraftwerk geschrieben und ist Mitglied im Rheinsberger Stadtgeschichtsverein. „Mich interessiert, wie die Gesellschaft funktioniert - und wie sie sich wandelt." Vor allem in den oft unbelichteten Randbezirken: auf dem flachen Land. „Was in Berlin, Leipzig, Dresden damals passiert ist, das wissen wir", erklärt Stude. Die Spezifika der Provinz seien hinge-gen viel weniger erforscht worden. Dabei gibt es aus Studes Sicht einige Besonderheiten, wie er am Bei-spiel Rheinsbergs zeigt. Die Mundpropaganda spiele dort zum Beispiel eine viel entscheidendere Rolle als in einer Großstadt. Auch das Spannungsverhältnis zwischen Werten wie Bewahren und Abkehr, Sicher-heit und Freiheit, Engagement und Sturz sei dort viel deutlicher abzulesen. Vor allem aber sei ihm bei der Arbeit .an dem Buch noch einmal klar geworden, dass die hehren Ziele Freiheit und Demokratie während des Übergangs zur neuen Ordnung zwar auch in einer Kleinstadt wichtig waren. „An erster Stelle stand dort aber die Lösung der konkreten Probleme: das Praktische." Und immer wieder: Rheinsberg als die Heimat der Herzen der Handelnden. „Die Verbunden-heit mit dem Ort hat mich in den Gesprächen wirklich beeindruckt. Die Identifikation scheint stark ausgeprägt - stärker auch als in vielen anderen Kleinstädten. "Die Idee zu dem Buch ist in Rheinsberg entstanden. Ende 2019 organisierte der Verein Stadtgeschichte auf Einladung von Maria Nooke, der brandenburgischen Beauftragten zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur, eine Gesprächs-runde in der Remise, erinnert sich Jörg Müller. Viele Rheinsberger seien zu diesem Runden Tisch gekommen, wie ihn die Organisatoren als Reminiszenz an die Wendezeit nannten. Sie haben von der bewegten Zeit 1989/90 berichtet, sehr emotional. „Am Ende hatten wir das Gefühl, dass noch nicht alles erzählt worden ist." Und dass noch viele Dokumentenschätze in privaten Archiven der Rheinsberger schlummern. Möller dachte, dass die Erinnerungen als Erbe für die nachfolgen-den Generationen aufbewahrt werden sollten — und dass sie als Fallbeispiel dienen können. „Man denkt, Revolutionen finden nur in großen Städten statt", sagt Möller. „Wir sind das beste Beispiel, wie viele Aktivitäten auch in Kleinstädten stattgefunden haben, dass es dort viele engagierte Menschen gab." Eine fundierte Arbeit sollte das dokumentieren. Der Verein gewann die Brandenburgische Landeszentrale für Politische Bildung für das Projekt, die es nun finanziert. Noch im Wende-Jubiläumsjahr sollte das Buch eigentlich fertig werden. Doch Corona verzögerte alles ein wenig. Möller ist glücklich, dass am Ende alles trotz der Pandemie geklappt hat. „Und ich bin erstaunt, wie viele neue Facetten zu dieser Zeit sich mir beim Lesen aufgetan haben." Sebastian Stude empfindet das Buch als eine gute Erinnerungs-grundlage für die Rheinsberger und für die Forschung. Trotzdem will er das Thema noch lange nicht ad acta legen. „Mit diesem Buch ist beileibe noch nicht alles gesagt: Es ist nur ein kleines Blitzlicht auf die Ereignisse 1989/90 in der Stadt." Offen sei für ihn zum Beispiel geblieben, welche Rolle die vielen Arbeiter in Rheinsberg während der Friedlichen Revolution gespielt haben. „In größeren Städten waren es oft die einfachen Leute, die auf die Straße gegangen sind: Wo sind die Kernkraftwerker gewesen, die Mitarbeiter bei Berlin-Chemie, die der Steingutfabrik?" Bisher hatte er kaum Gelegenheit, Interviews mit ihnen zu führen. Das würde er gern nachholen und bittet jeden, der da-zu Lust hat, sich an den Verein zu wenden. Info Das Buch gibt der Verein kostenfrei ab, bittet aber um eine Spende, die in die weitere Geschichtserforschung von Rheinsberg fließen soll. Bisher ist das Buch in einer Auflage von 500 Exemplaren erschienen, soll aber nachgedruckt werden, wenn es vergriffen ist. Sobald es die Pandemielage zulässt, will der Verein das Werk auch öffentlich präsentieren. Bild oben Der Verein Stadtgeschichte hatte die Idee zum Buch. Nun präsentiert Vereinschef Jörg Möller das Werk, das dank Landesgeld gratis verteilt wird. Bild unten Der Historiker Sebastian Stude von der Potsdamer Gedenkstätte Lindenstraße befasst sich seit Jahren mit Brandenburgische Zeitgeschichte. Seitenanmerkung links. Neues Forum Auch in Rheinsberg hat sich jetzt eine Arbeitsgruppe gebildet. Wir laden am Freitag 3.11-19 Uhr zur Friedensandacht in der Kirche ein! Der Aufruf zur Friedensandacht 1989 in Rheinsberg