Etwa 200 Menschen arbeiten in dem stillgelegten Kraftwerk bei Rheinsberg bis heute - der Abriss der Anlage könnte noch weitere 20 Jahre dauern, die Kosten steigen immer mehr
Reyk Grunow
(aus: Märkische Allgemeine; 05.05.2020)
Rheinsberg. Die Kosten für den Rückbau des Kernkraftwerks Rheinsberg explodieren. Bisherige Schätzungen gingen davon aus, dass der Abriss der Anlagen inklusive Einlagerung des radioaktiven Materials rund 600 Millionen Euro kosten wird. Inzwischen rechnet das bundeseigene Entsorgungswerk für Nuklearanlagen (EWN) mit 400 Millionen Euro mehr. Das Unternehmen ist ach der Wende gegründet worden, um die alten Kernkraftwerke der DDR in Lubmin bei Greifswald und Rheinsberg abzureißen. Ein Vierteljahrhundert laufen die Arbeiten n Rheinsberg inzwischen, ein Ende ist nicht abzusehen. Auch die Kosten steigen weiter. „Die EWN hat für den Rückbau der Nuklearanlagen in Lubmin und Rheinsberg circa 6,6 Milliarden Euro zur Verfügung. Das beinhaltet nicht nur die unmittelbaren Rückbaukosten vor Ort, sondern auch unter anderem die Kosten für die Zwischenlagerung“, sagt EWN-Sprecherin Gudrun Oldenburg nun auf Nachfrage. „Nur für den Rückbau des Kernkraftwerkes Rheinsberg sind von dieser Summe circa eine Milliarde Euro vorgesehen.“ Bezahlen muss die der Bund. So wurde es im Einigungsvertrag zischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland festgeschrieben. Als die Bauarbeiten für das Kernkraftwerk Rheinsberg – mitten im Wald, weitab von der nächsten größten Stadt – 1961 begannen, waren die Hoffnungen groß. Atomkraft galt als Zukunftstechnologie. Aus der ganzen DDR kamen hunderte Fachleute nach Rheinsberg. Das Kraftwerk ging 1966 in Betrieb. 35 Jahre später wurde es auch wegen massiver Mängel und Sicherheitsbedenken stillgelegt. Seit der Wende wird dort kein Strom mehr produziert. Trotzdem ist die Anlage bis heute einer der größten Arbeitsgeber in der Region. „Wir haben 120 Mitarbeiter“, sagt Dirk Slaby, der den aufwendigen Rückbau bis heute leitet. Hinzu kommen 70 bis 80 Mitarbeiter von anderen Firmen und Dienstleistern. Der Abriss hat sich inzwischen als noch viel schwieriger erwiesen als anfangs noch angenommen, Vor kurzem hieß es noch, die Anlagen in Rheinsberg sollen bis 2025 verschwunden sein. Das zuständige Ministerium für Verbraucherschutz in Potsdam geht inzwischen davon aus, dass die Arbeiten wenigstens 10 bis 15 Jahre länger dauern „Bis Mitte oder Ende der „Bis Ende oder Mitte der 2030er Jahre“, sagt Ministeriumssprecher Dominik Lenz. Zum Ministerium für Soziales, Gesundheit, Integration und Verbraucherschutz gehört in Brandenburg auch die Atomaufsichtsbehörde. Die muss alles, was in Rheinsberg passiert, vorab prüfen und genehmigen. Offizielle Zahlen, bis wann der Abriss beendet sein soll, hat auch das Ministerium nicht: Referatsleiter Erhard Geisler stützt sich auf Gespräche mit den Verantwortlichen der EWN und auf das, was er selbst vor Ort sieht. Dass sich das Datum für das Ende der Arbeiten immer wieder nach hinten verschiebt, verwundert Geisler allerdings nicht. „Das Konzept muss immer wieder an den tatsächlichen Gegebenheiten angepasst werden,“ sagt er. Und diese Gegebenheiten sind bei diesem Kernkraftwerk schwer abschätzbar. Niemand weiß so ganz genau, was in den meterdicken Betonwänden der Anlage noch versteckt ist. Der Rückbau des DDR-Kraftwerks zwischen Stechlin und Nemitzsee ist komplexer als die anderen Anlagen im Westen Deutschlands. Zum einen gab es in Rheinsberg direkt neben dem Kraftwerk einst ein eigenes Endlager für radioaktiven Abfall. So etwas existiert in der Alten Bundesrepublik nicht. Zum anderen sollte das Kraftwerk in Rheinsberg nicht nur Strom produzieren, sondern war auch als Versuchsanlage konzipiert. Dort gab es eine „heiße Zelle “, in der mit hochradioaktiven Stoffen gearbeitet wurde. Auch die ist in vielen Westdeutschen Kraftwerken nicht vorhanden. Die stark strahlenden Stoffe und Einrichtungen sind in Rheinsberg längst verschwunden. Die letzten Brennstäbe wurden 2001 abtransportiert. Der Reaktor wurde 2007 ins Zwischenlager nach Lubmin bei Greifswald gebracht. Seit mehreren Jahren sind die Mitarbeiter dabei, alle technischen Anlagen aus dem „Produktionsbereich“ auszubauen. Rohre müssen aus meterdicken Betonwänden geschnitten werden, Kabel entsorgt, Leitungen durchtrennt. Alles unter extremen Sicherheitsvorkehrungen, um die Mitarbeiter von der noch vorhandenen Strahlung zu schützen und um zu verhindern, dass irgendetwas davon in die Umwelt gelangt. Allein im Kontrollbereich, dem besonders abgeschirmten innersten Teil der Anlage, gibt es in Rheinsberg 320 Räume. Der Rückbau läuft seit 1995. Alles, was in Rheinsberg bisher passierte, basiert im Wesentlichen auf einer Genehmigung der Atombehörde, die Mitte der 90er Jahre erteilt wurde. Damit dürfen sich zurzeit zwar die technischen Einrichtungen ausgebaut werden. Ein Abriss der Gebäude hingegen wäre nicht möglich. Dafür müsste die EWN ein gesondertes Konzept zur Genehmigung einreichen. „Für den vollständigen Rückbau gibt es bislang keinen Antrag“. Sagt Erhard Geisler von der Atomaufsicht. Frühere Ideen sind vom Tisch. So war einmal vorgesehen, das Reaktorgebäude von allen strahlenden Teilen zu befreien und den reinen Baukörper dann 50 oder 60 Jahre sehen zu lassen. Die Strahlung sollte sich im Inneren durch den natürlichen Zerfall der radioaktiven Elemente so sehr verringern, dass die Gebäude am Ende ganz normal abgerissen und als Bauschutt entsorgt werden könnten. Dagegen hatte das Land massive Bedenken. Wie hätte in einer so komplexen Anlage sichergestellt werden können, dass nicht doch noch irgendwo strahlende Teile übersehen wurden, die erst später entdeckt werden? Tatsächlich wurden beim Rückbau bisher schon hunderte Teile entdeckt, die in keinem Plan ja verzeichnet waren. Überraschungen gibt es fast jeden Tag. Die EWN hat dieses Konzept deshalb schon vor Jahren verworfen. Das Land hofft, dass es bald ein neues Papier gibt. Auch, damit das Ministeriumselbst planen kann. Erhard Geisler ist ein absoluter Fachmann für die Anlage in Rheinsberg. Aber in absehbarer Zeit geht er in den Ruhestand. Muss das Land seine Stelle neu besetzten? Vor einem ähnlichen Problem steht Anlagenleiter Dirk Slaby in Rheinsberg. Auch dort gehen immer mehr alte Kernkraftwerker in den Ruhestand, die die Anlage in- und auswendig kannten. Die meisten Stellen müssen neu besetzt werden. Die Zahl der Mitarbeiter nimmt deshalb so schnell nicht ab. Sie soll sogar noch steigen. Für den endgütigen Rückbau braucht das Kernkraftwerk ein weiteres Team von hochqualifizierten Ingenieuren. Irgendwann, in einigen Jahren.