Im Oktober 1989 gründete sich in Rheinsberg das Neue Forum—der Zeitzeuge und Aktivist Hans Hans -Norbert Gast erinnert sich
Feliks Todtmann
(aus: Märkische Allgemeine; 10.10.2019)
Rheinsberg. Die Wende in Rheinsberg begann mit dem Lied: Hunderte sangen am 3. November 1989“ Gib uns Weisheit, gib uns Mut“ bei der ersten Friedensandacht in der St.-Laurentius- Kirche. .“Das gemeinsame Singen hatte eine unglaubliche Wirkung: Es befreite uns für kurze Zeit von der Angst, die wir alle hatten“ erinnert sich Hans Norbert Gast, der die Andacht damals mit der Rheinsberger Bürgerinitiative organisiert hat. „Die Kirche war randvoll“ sagt Gast. So voll, dass ein Fernsehteam aus Westberlin nicht zum Altar durchkam, um Bilder von der Menge aufzunehmen. Die Leute hoben die Reporter kurzerhand hoch und trugen sie auf ihren Händen nach vorn-samt Kameraausrüstung. Hans-Norbert Gast hatte zuvor regelmäßig an Friedhofsandachten in der Berliner Gethsemanekirche teilgenommen. Die Gottesdienste in Berlin und anderen Städten waren die Keimzellen der friedlichen Revolution der DDR. Aus der Tagesschau erfuhr er damals, dass Teilnehmer der Friedensandachten in Berlin und Leipzig von der Staatssicherheit verhaftet und misshandelt worden waren: “ Die Leute wurden teilweise im Keller gebracht und mussten die ganze Nacht lang stehen. Manche wurden gezwungen, sich nackt auszuziehen.“ Das war für ihn der Anstoß, selbst etwas zu unternehmen. Hans Norbert begann, Informationen über die Verhaftungen in einem Hefter zusammenzutragen. Auf die Mappe schrieb er: “Einsicht kann man von keinem verlangen, dem man die Aussicht verweigert. “Er verlieh die Sammlung an Freunde und Arbeitskollegen, damit diese sich ein eigenes Bild von der Lage in der DDR machen konnten. Viele waren der gleichen Meinung wie Gast: So kann es nicht weitergehen. Am 30.Oktober 1989 gründeten sie die Rheinsberger Bürgerinitiative-in einem Haus der Kirche. Denn die Angst vor Repressalien durch die Staatsmacht war groß: Eine Familie, die den Wahlbetrug bei den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 öffentlich anprangerte, musste Neuruppin über Nacht verlassen, ihr Haus wurde verkauft. Gast und seine Frau begannen Vorkehrungen zu treffen: Im Falle ihrer Verhaftung sollten die drei Kinder des Ehepaares, damals 16,14 und neun Jahre alt, nicht in ein staatliches Heim, sondern zu Hans Norbert Gasts Bruder kommen, das Haus wurde auf seine Mutter überschrieben.“ Wir hatten ständig Angst, Haus, Familie und Beruf zu verlieren“, sagte er. Fotos aus der Zeit des Neuen Forums in Rheinsberg gibt es deswegen nicht: Zu groß war die Angst, Beweismittel für die Stasi zu schaffen. Auch schriftliche Notizen fertigten die Aktivisten nicht an. Hans Norbert Gast schrieb seine Erinnerungen später in einem Tagebuch auf. Es ist wahrscheinlich die einzige Quelle für die Geschichte des Neuen Forums in Rheinsberg. Noch vor der ersten Rheinsberger Friedensandacht Anfang November formulierte die Gruppe ihre Forderungen: Zum einem unterstützte sie den Aufruf „Aufbruch 89“ des Neuen Forums, der eine demokratische Umgestaltung der DDR forderte. Zum anderen stellte sie konkrete Forderungen für Rheinsberg und Umgebung: Umweltschutz, Entmilitarisierung und eine Reform des Wahlrechts. Den Fall der Mauer am 9.November verschliefen die Gasts. Am Abend hatten sie die Generalprobe mit dem Rheinsberger Carneval Club, gegen Mitternacht fielen sie erschöpft ins Bett. Die Nachricht von der Grenzöffnung erreichte sie erst am nächsten Tag. „ Wir haben beide geheult“ erzählt Norbert Gast und schluckt. Noch heute werden seine Augen glasig, wenn er von diesem Abend im November spricht. Nachgefragt „Das Erbe von 89 gerät in Vergessenheit“ Hans Norbert Gast über die Wende 1989 Rheinsberg. Vor 30 Jahren hat Hans Norbert Gast in Rheinsberg das Neue Forum mitbegründet. Das Erbe von 1989 gehe zunehmend verloren, fürchtet er. Warum er dennoch Hoffnung in die junge Generation setzt. Herr Gast, was ist für sie das Erbe des Neuen Forums? Wir haben eigentlich immer versucht- unabhängig von der Parteizugehörigkeit- Probleme im Sinne der Rheinsberger zu lösen, konsensorientiert. Ich glaube das dieses Erbe von 1989ein wenig in Vergessenheit gerät. Unser politisches System heute ist stark parteipolitisch polarisiert. Von den Landtagswahlen im Herbst hingen in Brandenburg die Plakate der Afd mit Slogans wie „Wende 2.0“ oder „Vollende die Wende“. Was geht ihnen durch den Kopf, wenn Sie das lesen? Das macht mich wütend. Da stellen sich jetzt Leute, die -darauf würde ich wetten- in der Wendezeit gar keine aktive Rolle gespielt haben, als die großen Kämpfer dar. Das ist auch ein Problem des Erbes von‘ 89: Die Menschen dazu, sehr schnell zu vergessen, wer sich tatsächlich engagiert hat und in welchen Maße-Wissen junge Menschen heute zu einig über die Wendezeit? Ja, in der Schule wird das Thema kaum behandelt. Es ist auch schwierig, das zu vermitteln, wenn man die DDR gar nicht mehr selbst erlebt hat. 30 Jahres sind eine lange Zeit: Viele junge Menschen haben gar keine Beziehungen mehr zu dem, was damals passiert ist. Was können junge Leute von 1989 lernen? Das sehen
wir vielleicht an den Schülern, die sich heute engagieren. Es muss nicht alles richtig sein, was die jungen Klimaaktivisten heute fordern, aber jemand, der heute für etwas auf die Straße geht reift für sein späteres politisches Leben. Das war bei und damals ähnlich. Fridays for Future als das Neue Forum heute? In gewisser Weise schon. Auch bei den Demonstrationen und Veranstaltungen des Neuen Forums waren viele Leute, die sich zum ersten Mal politisch engagiert haben. Das sehen wir heute auch. Die Menschen auf der Straße müssen keine Antwort haben, sie müssen nur wissen, dass sich etwas ändern muss.