Nach dem Abriss des ehemaligen Carmol-Werkes sollen gegenüber dem Bahnhof Wohngebäude entstehen.
Jürgen Rammelt
(aus: Ruppiner Anzeiger; 06.04.2023)
MOZ RA Abriss Carmol
Ein Ort der Geschichte wird dem Erdboden plattgemacht
Nach dem Abriss des ehemalige Carmol-Werkes sollen gegenüber dem Bahnhof Wohngebäude entstehen
Jürgen Rammelt
Noch steht sie, die historische Fassade des einstigen Bahnhofshotels am Ausgang von Rheinsberg: Als Herstellungsort von Carmol und danach als Produktionsstätte der Berlin-Chemie ging die Immobilie in die Geschichte der Stadt Rheinberg ein. Doch die Tage des Gebäudes sind gezählt. Nachdem bereits eine große Halle und einige Nebengebäude abgerissen wurden, frisst sich ein Bagger seit Tagen durch das Gemäuer.
Mit etwas Wehmut verfolgt auch Udo Blankenburger das Treiben auf dem Betriebsgelände, auf dem sich seit über 20 Jahren die Füchse gute Nacht sagten. Der Vorsitzende des Arbeitsgemeinschaft Rheinsberger Bahnhof versteht nicht, dass mit dem Abriss vollendete Tatsachen geschaffen werden und ein historisches Gebäude einfach abgerissen wird.
Doch die Antwort ist ganz einfach: Während das stadteinwärts leerstehende Wohnhaus, deren Eigentümer ebenfalls das in Berlin ansässige Pharma-Unternehmen ist, unter Denkmalschutz steht, ist das beim ehemaligen Hotel nicht der Fall. So soll es nach Auskunft der Berlin-Chemie AG für das Wohnhaus bereits einen Investor geben, der es wieder einer Nutzung zuführen will.
Wie im Rheinsberger Rathaus zu erfahren war, habe es ebenso für das ehemalige Hotel und die spätere Produktionsstätte immer mal wieder Gespräche mit Interessenten gegeben. Aber diese seien hinsichtlich des Zustandes zurückgeschreckt. Bei der beabsichtigten Nutzung wollten auch sie einen Großteil der vorhandenen Substanz abreißen.
Das passiert jetzt im Auftrag der Berlin-Chemie AG, die zur italienischen Menarini-Gruppe gehört. Das weltweit agierende Unternehmen hofft, dass sich nach dem erfolgten Abriss eher ein Investor für die Fläche findet. Angedacht und abgesprochen mit der Stadt ist, dass dort eine Wohnbebauung entsteht, die sich dem Stadtbild anpasst.
Die ehemalige Produktionsstätte ist eng mit der Geschichte des Universalheilmittels „Carmol“, einer Mixtur aus zahlreichen Kräuter-Extrakten, verbunden. Neben der Stadtgeschichte, der Keramik-Produktion und der Geschichte des Kernkraftwerkes gehört die Carmol-Herstellung zu den Schwerpunkt-Themen des Vereins Stadtgeschichte Rheinsberg. Holger Pfeifer und Helmut Plunze, zwei Vereinsmitglieder, haben dazu besonders recherchiert.
Besonders Helmut Plunze, der in Velten beheimatet ist, hat zahlreiche Exponate, die auf Flohmärkten und im Internet zur Geschichte der Carmol- und Keramikherstellung in Rheinsberg angeboten wurden, erworben und gesammelt. Mit Unterstützung durch die Sparkasse OPR und einer Stiftung, konnte der Verein im vergangenen Jahr einen Großteil dieser geschichtsträchtigen Exponate erwerben, von denen einige bereits im Haus der Stadtgeschichte bewundert werden können. Es sind Werbeschilder, aber auch Etiketten, Flaschen und Pillen.
Die erste Carmol-Fabrik entstand 1902 in Rheinsberg. Damals hatte sich der Unternehmer Rudolf Poscich an der heutigen Schlossstraße niedergelassen. Auf seinem ersten Firmengrundstück steht heute die Filiale der Sparkasse. Von dort aus trat das Arzneimittel, auch als Karmelitergeist bekannt, seinen Siegeszug durch ganz Deutschland an. „Carmol tut wohl“ oder „Carmol im Haus, treibt Sorge hinaus“ waren damals bekannte Werbesprüche. Die Kräutertropfen versprachen Linderung bei Husten, Heiserkeit, Rheumatismus, Muskelschmerzen und etlichen anderen Beschwerden.
Nachdem die Produktionsstätte 1912 durch einen Brand fast vollständig zerstört wurde, zählte das Unternehmen 1914 bereits 70 Beschäftigte. 1926 wurden bereits 30 Präparate in flüssiger und cremiger Form sowie als Lutschware hergestellt und in den Handel gebracht. Rudolf Poscich starb 1937, seine Frau ein Jahr später. Nachfolger wurde Poscichs Sohn Hans. Die Villa der Familie Poscich wird 1954 Landambulatorium.
Die Familiengrabstätte, befindet sich auf dem kirchlichen Rheinsberger Friedhof. Sie wird vom Verein Stadtgeschichte gepflegt.
Das ursprüngliche Firmengelände wuchs schnell, wurde jedoch im Zweiten Weltkrieg zerstört. Nach 1945 entstand eine neue Fabrik am bekannten Standort nahe dem Rheinsberger Bahnhof. Auch unter volkseigener Regie wurde Carmol hergestellt. 1950 erfolgte der Kauf des ehemaligen Hotels. 1989 zählte das Werk 230 Mitarbeiter, von denen die meisten Frauen waren. Bis zum Jahr 2001 wurden unterschiedliche Medikamente hergestellt. In der Hauptstadt produziert Berlin-Chemie bis heute. „Die Maschinen aus Rheinsberg laufen dort immer noch“, berichtet Bürgermeister Frank-Rudi Schwochow.
Dass sich auf dem Carmol-Areal endlich etwas tut, darüber ist die Stadt froh. Allerdings hätte sich der Bürgermeister gewünscht, dass die Fassade des historischen Bahnhofshotels stehen bleiben könnte.
„Aber ausgerechnet dieses Gebäude ist in einem sehr schlechten Zustand“, musste er eingestehen. Nur das Nachbargebäude, das unter Denkmalschutz steht, soll erhalten bleiben. Dafür hätten sich bereits Käufer gefunden, die es ebenfalls sanieren wollen, sagt der Rathauschef. Auch dort seien Wohnungen geplant.