Neues Projekt der Gedenkstätte Lindenstraße in Potsdam: Historiker Sebastian Stude unterzieht die Forschung einer ersten Korrektur - und hofft auf Berichte von Zeitzeugen
Karim Saab
(aus: Märkische Allgemeine; 25.05.2020)
Potsdam. „Manchmal kann man es sich gar nicht so interessant ausmalen, wie das wahre Leben ist“, sagt Sebastian Stude. „Streng vertraulich! Nur für den Dienstgebrauch!“ steht über den Karteikarten im Din-A4-Querformat, die Stude in den Archiven entdeckt hat. Die Kaderleitung des Untersuchungsgefängnisses der Staatssicherheit in Potsdam hat auch über das Leben ihrer angestellten Vernehmer und Schließer Protokoll geführt. Knapp 300 Personalakten von Stasi-Offizieren mit Einträgen unter vorgedruckten Fragen wie „Parteistrafen – wann, welche, Grund“ hat Stude eingesehen.
Vom Quereinsteiger zum Chef
Zum Beispiel W., Jahrgang 1926. Er hatte eine Schwägerin, die im Westen lebte, aber keine Verwandten, die von den Sicherheitsorganen der DDR schon einmal verfolgt wurden. Als Gefreiter der Wehrmacht kämpfte er bis März 1945 in Litauen und Ungarn. In sowjetischer Gefangenschaft durchlief er dann bis 1949 eine „Antifazentralschule“. Er wurde als „Stahlbauschlosser“ geführt, trat im Februar 1951 in die SED ein und absolvierte von August bis Oktober 1953 einen Sonderlehrgang beim Ministerium für Staatssicherheit in Eiche. „Ein Quereinsteiger, die erste Generation also. Und er hat es sogar zum Leiter der AbteilungIX, Strafverfolgung, gebracht“, resümiert Stude. Dann zeigt er auf die dichte Schreibmaschinenschrift am unteren Rand. W. wurde am 18. Februar 1963 „wegen moralischer Nichteignung und Verstoß gegen die Dienstordnung des MfS“ entlassen. Handschriftlich wurde hinzugefügt: „Intime Beziehung zu ehem. weibl. Häftlingen, zog Mitarbeiter in Moral. Vergehen mit hinein.“
30 Jahre nach dem Ende der DDR entwickelt der 40-jährige Sebastian Stude einen besonderen Blick für derartige Abweichungen von der Regel. Stude ist Historiker und hat gerade seine Promotion über das Kernkraftwerk Rheinsberg verteidigt. Er will keine Schwarz-Weiß-Klischees bedienen, auch wenn sein Forschungsgegenstand, die Geschichte des Potsdamer Stasi-Knastes, an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Er wurde in Halle. Seine Eltern waren Uni-Angestellte, beide in der SED. „Das Gefängnis war eine extreme Erfahrungswelt, die man zum DDR-Alltag ins Verhältnis setzen muss. Manchmal stelle ich mir vor, wie dieser Major W. morgens seine beiden Kinder in den Kindergarten gebracht hat, um anschließend die Untersuchungshäftlinge zu verhören“, so Stude.
Dank des Forschungsprojektes „Landschaften der Verfolgung“ hat der Wissenschaftler vier Jahre Zeit, die Geschichte des zentralen Stasigefängnisses im Bezirk Potsdam zu erforschen. Die Bundesregierung nimmt zwischen 2019 und 2022 noch einmal insgesamt 40 Millionen Euro in die Hand, um Wissenslücken über begangenes Unrecht in den unterschiedlichsten Bereichen der DDR-Gesellschaft zu schließen. Dafür wurden 14 Verbünde ins Leben gerufen. Und in eines dieser Forschungsboote wurde die Potsdamer Gedenkstätte gemeinsam mit drei Universitäten, der Charité, der Robert-Havemann-Gesellschaft und zwei weiteren Gedenkstätten gesetzt. Die Vertreter der Institutionen treffen sich regelmäßig bei Kolloquien und halten sich gegenseitig Vorträge.
Rowdytum im Bezirk Potsdam
Bei seinen Recherchen war Stude auch auf einen Vorfall in den 70er Jahren im Bezirk Potsdam gestoßen, bei dem vier NVA-Unteroffiziere bei dem Besuch einer Dorfdisko böse verprügelt wurden. Ergänzt um sein Wissen über Skinhead-Angriffe in den 1980er Jahren hielt er im Januar ein Referat mit dem Titel „Rowdys und Rowdytum im Bezirk Potsdam“.
Strafgesetze, gefängnis- und Prozessakten bringen das unangepasste Leben in einem Staat zur Sprache. „Im Gegensatz zu westlichen Nachrichten- und Geheimdiensten unterhielt die Stasi eigene Untersuchungshaftanstalten und war mit den Befugnissen der Polizei ausgestattet, um politische Ermittlungsverfahren bis zum Abschluss zu führen“, stellt Stude grundsätzlich fest. Er kann auf solide Vorarbeiten von Historiker-Kollegen wie Gabriele Schnell, Thomas Wernicke und Hans-Hermann Hertle aufbauen. Nach dem ersten Recherche-Jahr korrigiert er die bisher angenommene zahl der Häftlinge nach unten. „Zwischen 1952 und 1989 gab es nicht 7000, sondern knapp 6000 Insassen, denn die Stasi hat etwa 1000 Ermittlungsverfahren ohne Untersuchungshaft durchgeführt“, lautet ein erstes Ergebnis.
Viele Akten wird er sich intensiver anschauen. Die Gründe für Freisprüche oder verhältnismäßig niedrige Strafen interessieren ihn genauso wie die brutalste politische Justiz, die in Potsdam geübt wurde. Die Untersuchungshäftlinge lassen sich in „Cluster“ einteilen. „Ermittlungen wegen Republikflucht war das Brot- und Buttergeschäft der Stasi“, erklärt Stude. Gegen Wehrdienstleistende bei den Grenztruppen habe es im Laufe der Jahre immer wieder Verfahren gegeben. Die Grenze zu Westberlin war ein Dauerthema, in diesen Komplex fielen Anklagen wegen „Fluchthilfe“, „Agententätigkeit“, „Hetze“.
In den 50er Jahren gab es die Gruppe der Zeugen Jehovas, die Kontakt zu ihrer Zentrale in Westberlin unterhielten. In den 80er Jahren wurden auch Angehörige der DDR-Friedensbewegung hinter den Mauern festgehalten.
Stasi-Offiziere sind Zeitzeugen
Stude will seine Erkenntnisse in einer Ausstellung 2021 vorstellen. Am Ende soll eine lesefreundliche Abhandlung über den Haftort entstehen. „Darin möchte ich mehr als nur die Geschichte der Stasi erzählen. Es wird sich herauslesen lassen, was den Agrar- und Industriebezirk Potsdam geprägt hat.“ Es gab bäuerlichen Widerstand, der sich gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft im Fläming, Havelland und in der Prignitz gewehrt hat. Und auch die Arbeiter an den sozialistischen Industriestandorten wie Premnitz, Brandenburg/Havel, Hennigsdorf, Rathenow, Pritzwalk oder Teltow haben sich nicht alles gefallen lassen. „Das geht los vom bösen Spruch über Honecker an der Toilettentür bis hin zum Betriebsleiter, dem Sabotage vorgeworfen wird“, so Stude.
Vor allem möchte Stude mit Zeitzeugen ins Gespräch kommen. Kürzlich brachte ihm ein ehemaliger Häftling einen kleinen Würfel vorbei, den er in der Haft aus Brot- und Zahnpastaresten hergestellt hatte. Stude hofft aber auch darauf, dass sich ehemalige Stasi-Offiziere, politische Verantwortungsträger und auch Staatsanwälte melden. Vor ihm liegt ein weiterer Auszug aus den Kaderakten. „der letzte Leiter der Abteilung IX steht für die Generation der Profis“, sagt er. H. wurde 1932 geboren und verdiente zuletzt im Monat 1750 Mark. „Doch ich weiß, vielen ging es nicht nur um das Geld. Ich möchte verstehen, wie sie gehandelt haben.“
Stude hofft also, dass sich nicht nur ehemalige Gefangene, sondern auch Schließer und Vernehmer bei ihm in der Gedenkstätte melden. „ Eine Reflexion aus dem Abstand von drei Jahrzehnten muss doch möglich sein!“, meint er. Heute ginge es nicht mehr um berufliche Karrieren. Und fügt hinzu: „Ich bin Historiker, kein Jurist, möchte auch keine moralischen Urteile fällen.“
[Bildunterschrift:]
Historiker Sebastian Stude vor der Gedenkstätte Lindenstraße in Potsdam
Foto: Karim Saab
Vortrag am 17. Juni
Am 17. Juni, 18 Uhr hält Sebastian Stude einen Vortrag zum Thema „Revolte und Revolution. 1953 und 1989 im Havelbezirk Potsdam“.
Wegen der Corona-Pandemie wird die Veranstaltung nicht in der Stiftung Gedenkstätte stattfinden, sondern als Live-Stream.