Das Kernkraftwerk ging 1966 offiziell in Betrieb - damit war Rheinsberg mittendrin im Wettlauf von Ost und West
Reyk Grunow
(aus: Märkische Allgemeine; 18.01.2023)
Rheinsberg. das Kernkraftwerk in Rheinsberg (KKW) war ein Prestigeobjekt der DDR. Allein schon, dass der Betrieb auf dem 10-Mark-Schein abgebildet war, zeigt seine Bedeutung. Der Historiker und Politikwissenschaftler Sebastian Stude (Jahrgang 1979) hat für seine Dissertation die Geschichte des KKW untersucht. Ihm ging es weniger um die technischen Leistungen, die damit verbunden waren, als vielmehr um die politische und gesellschaftliche Rolle des Baus. Unter dem Titel „Roter Strom“ hat er seine Arbeit jetzt im Mitteldeutschen Verlag als Buch veröffentlicht.
MAZ: Wie sind Sie auf das Kernkraftwerk Rheinsberg als Thema für Ihre Arbeit gekommen?
Sebastian Stude: Ich habe Geschichte, Politikwissenschaft und Philosophie in Halle (Saale) und in Berlin studiert und bin etwa 2010 aus privaten Gründen nach Menz bei Rheinsberg gekommen. Damals habe ich mich gefragt, welchem Thema man sich in Rheinsberg als Historiker widmen könnte. Kurt Tucholsky, das Schloss, die Keramikproduktion – dem widmeten sich bereits andere Leute. Ich hab dann in jugendlicher Leichtigkeit entschieden, ich mache was zum Kernkraftwerk und dort einfach angerufen. Für die Öffentlichkeitsarbeit im Kernkraftwerk war damals Jörg Möller zuständig, der bis heute den Stadtgeschichtsverein in Rheinsberg leitet.
Die Mitarbeiter im Kernkraftwerk waren also offen für Ihre Idee?
Sebastian Stude: Ich saß kurz nach meinem Anruf mit Jörg Möller und dem damaligen Betriebsleiter Michael Schönherr in einem Büro und hab‘ als junger Mensch den beiden erfahrenen Kernkraftwerkern erzählen wollen, warum die Geschichte des Kernkraftwerks bei Rheinsberg so interessant ist. Die beiden haben sich darauf eingelassen. Das war für mich ein großes Glück. Das erste Ergebnis meiner Arbeit war eine Ausstellung 2013 mit dem Stadtgeschichtsverein in der Remise am Schloss in Rheinsberg. Herr Möller und die Unterstützung des Geschichtsvereins haben mich ermutigt, weiter zu machen.
Und jetzt, zehn Jahre später, ist das Buch fertig?
Sebastian Stude: In der Zwischenzeit durfte ich im Stasi-Unterlagenarchiv ein Projekt bearbeiten, das sich mit der Stasi im Kernkraftwerk Greifswald beschäftigt hat. Dabei habe ich viel über die Quellenlage und über die Zusammenhänge zwischen SED-Geheimpolizei und DDR-Kernenergiewirtschaft gelernt. Rheinsberg habe ich mich in alle der Zeit immer wieder gewidmet. Das war nur möglich mit einem Stipendium von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
In Ihrem Buch führen Sie weit über 800 Quellen auf. Wie sind Sie an all das Material gekommen?
Sebastian Stude: Ich war in der glücklichen Situation, das Betriebsarchiv in Rheinsberg nutzen zu können. Ich habe mehrere Monate im Kernkraftwerk gearbeitet, hatte dort ein kleines Arbeitszimmer und kam auch mit den Beschäftigten ins Gespräch. Überhaupt machte einen Großteil meiner Recherchen das Gespräch mit Zeitzeugen aus.
Wie schwierig war das? Kernkraft war und ist ein umstrittenes Thema.
Sebastian Stude: Der Stadtgeschichtsverein hat mir viele Türen geöffnet. Ich konnte zum Beispiel mit dem Fischermeister Adolf Böttger sprechen, der in den 1950er Jahren die Umsiedlung seines Vaters am Stechlinsee für den Bau des Kernkraftwerks erlebte. Ich habe mich mit einem früheren Tischler aus dem Kernkraftwerk, mit einer früheren Angestellten der Betriebsküche im Kernkraftwerk genauso unterhalten wie mit Leuten, die dort als Reaktoroperator den Reaktor gesteuert haben. Es ist ein spannendes Bild, was sich mit diesen Erinnerungen aufgeblättert hat.
Manchmal scheint es auch heute noch, dass in Rheinsberg Kritik am Kernkraftwerk nicht gehört wird. Haben Sie das auch so erlebt?
Sebastian Stude: Natürlich gibt es diejenigen, die sich bis heute sehr stark mit dem Betrieb identifizieren und die möglichst wenig Schlechtes auf das Kraftwerk kommen lassen. Es gibt aber durchaus auch kritischere Stimmen. Etwa eine Frau, die in den 1960er Jahren in der Stadtverwaltung gearbeitet hat. Sie hat den Bau des Kraftwerkes als großes Durcheinander erlebt, als viele ortsfremde Arbeiter nach Rheinsberg kamen.
Auch frühere Angestellte aus dem Kraftwerk haben ihre Zeit dort durchaus kritisch reflektiert, gerade die spätere DDR, als Geld und Material zunehmend knapp geworden sind. Etwa wenn für den Fuhrpark immer weniger Autos zur Verfügung standen, die in immer schlechterem Zustand waren und sogar das Benzin rationiert werden musste. Dabei gilt: Im nuklearen Bereich hat man sich durchaus bemüht, die Arbeitsumstände und die materielle Ausstattung im Rahmen der Möglichkeiten gut zu gestalten.
Das Kernkraftwerk in Rheinsberg war das erste auf deutschem Boden. Für die damalige Zeit war das sicher eine großartige ingenieurtechnische Leistung. Wie ist Ihr Blick darauf?
Sebastian Stude: Fakt ist, dass in Rheinsberg das erste industrielle Kernkraftwerk in Deutschland in Betrieb genommen worden ist. Das war wenige Monate vor dem in Gundremmingen in Bayern. Dort ging ein US-amerikanischer Druckwasserreaktor in Betrieb, in Rheinsberg war es ein sowjetischer.
Es war ein technologischer Wettlauf der Systeme. Wissenschaftlern und Ingenieuren war aber schon 1966 klar, dass sie in Rheinsberg einen überholten Reaktor an den Start brachten, einen Reaktor der ersten Generation. Umso interessanter ist, dass es den Kernkraftwerkern gelang, das Kraftwerk bis 1990 relativ unfallfrei zu betreiben.
Sie haben sich als Historiker viel mit der Arbeit des Ministeriums für Staatssicherheit in der DDR befasst. Welche Rolle spielte die Stasi für den Betrieb in Rheinsberg?
Sebastian Stude: Wie in anderen DDR-Betrieben auch, ging es der Staatssicherheit darum, die zentralen Beschlüsse von SED und Staat in der Praxis durchzusetzen. Ihr ging es um das Erreichen der wirtschaftlichen Planvorgaben, das Bekämpfen von „politischen Feinden“.
Aber auch der Geheimnisschutz fiel in die Zuständigkeit der Staatssicherheit. Sie hatte darauf zu achten, dass bestimmte Unterlagen und Informationen geheim blieben oder nur einem bestimmten Personenkreis zugänglich waren. Damit hat die Staatssicherheit den Arbeitsalltag im Kraftwerk absolut behindert und erschwert. Es hat die Leute genervt, ständig Dokumente wegschließen zu müssen und sich nicht frei austauschen zu dürfen.
Gibt es etwas, das Sie bei Ihrer Arbeit über das Kernkraftwerk besonders überrascht hat?
Sebastian Stude: Ich finde interessant, dass sich die Idee vom billigen und sauberen Strom aus Kernkraftwerken in Rheinsberg nicht durchgesetzt hat. Es heißt, der Bau von Kernkraftwerken sei relativ teuer – rechne sich aber langfristig, weil die Stromproduktion dort günstig sei. Das war in Rheinsberg nicht so. Der Strom wurde dort zu höheren Kosten produziert, als die ostdeutschen Verbraucher dafür zahlen mussten. Und Mitte der 1970er Jahre hat es einen schweren Störfall gegeben, als offensichtlich bewusst mehrere hundert Tonnen radioaktiv verschmutzte Abwässer in den Stechlinsee abgeleitet wurden. Die Staatssicherheit leitete Ermittlungen ein und war entsetzt über den Schlendrian, den sie im Kernkraftwerk vorfand. Wer für das Ablassen des verschmutzten Wassers in den Stechlinsee verantwortlich war, konnte sie nicht herausfinden.
Man merkt heute noch bei vielen Rheinsbergern den Stolz, im Kernkraftwerk gearbeitet zu haben. Als wären sie eine Art Elite in der DDR gewesen.
Sebastian Stude: Das mag seine Berechtigung haben. Wenn man sich anschaut, was für ein lebendiges kulturelles Leben diese kleine Stadt Rheinsberg bis heute hat … Das hängt zu einem großen Teil wohl auch damit zusammen, dass da gescheite Menschen vor Ort sind, die neugierig sind und die Lust haben, sich zu engagieren.
Interview: Reyk Grunow
Info Das Buch „Roter Strom – die Geschichte des Kernkraftwerkes Rheinsberg 1956 bis 2000“ gibt es zum Preis von 48 Euro im Buchhandel oder beim Stadtgeschichtsverein Rheinsberg in der Seestraße 22.
[Zitat, mittig:] „Ich finde interessant, dass sich die Idee vom billigen und sauberen Strom aus Rheinsberg nicht durchgesetzt hat. | Sebastian Stude | Autor des Buches „Roter Strom“
[Bildtitel:]
[oben:] Aufnahme aus dem Mai 1970, Original-Vermerk: „VEB Atomkraftwerk Rheinsberg. Blick in die Blockwarte des ersten KKW der DDR.“ Foto: Wolfgang Mallwitz
[Mitte links:] Sebastian Stude, Autor des Buches über das Kernkraftwerk Foto: privat
[Mitte rechts:] der Rückbau des KKW in den 2010er Jahren Foto: Peter Geisler