Der Historiker Sebastian Stude hat zur Geschichte des Kernkraftwerkes Rheinsberg geforscht. Sein Buch „Roter Strom“ zeichnet das Bild eines sozialistischen Prestigeprojektes, das nie wirtschaftlich rentabel betrieben werden konnte. Von Jürgen Rammelt
Jürgen Rammelt
(aus: Ruppiner Anzeiger; 14.01.2023)
Es war ein Prestigeobjekt der jungen DDR – das Atomkraftwerk Rheinsberg. 1955, nach der Aufhebung des Verbotes der Atomenergieforschung in Deutschland, beschloss die Führung der SED, beschloss die Führung der SED, die Stromerzeugung mittels Kernenergie voranzutreiben. Schon bald beginnt unweit des märkischen Städtchens Rheinsberg zwischen Nehmitz- und Stechlinsee, mitten in einem Naturschutzgebiet, der Bau des ersten Atomkraftwerkes. Die Geschichte dieses Kraftwerkes würdigt der Historiker Sebastian Stude nun mit dem Buch „Roter Strom“.
Natürlich ist Strom nicht von roter Farbe. Mit dem Titel zieht der Autor Sebastian Stude symbolisch einen Vergleich. Immerhin ist Rot die Farbe des Blutes, die auch für existenzielle Dinge wie Leben und Tod, aber auch für gemeinsame Bande und Opfer steht. Aber Rot ist auch die Farbe des Kommunismus, sie steht für Leidenschaft und Solidarität und nicht zuletzt für Revolution und den seinerzeit propagierten Wandel in Politik und Wirtschaft.
Studes mehr als 400 Seiten starker Wälzer handelt vom Aufbau und Betrieb des Kernkraftwerkes (KKW) Rheinsberg und umfasst den Zeitraum von 1955 bis 1990. Ein umfangreiches Quellenverzeichnis gibt Auskunft darüber, in welchen Archiven der Autor geforscht hat. Doch es ist nicht nur die Geschichte des Kraftwerkes, die in dem Buch beschrieben wird: Wer es liest, erhält einen Einblick in die Geschichte der DDR, in deren Beziehungen zur Sowjetunion und zum Denken und Handeln der damaligen Regierung und Partei.
Langwierige Standortsuche
Erste Überlegungen, in der DDR ein Kernkraftwerk zu bauen, gab es 1955. Unter dem Motto der „technisch-wissenschaftlichen Revolution“ beschloss die damalige Führung von SED-Chef Walter Ulbricht, mithilfe der Sowjetunion die Kernenergie friedlich für die Stromerzeugung zu nutzen. Eine wichtige Frage war die Suche nach dem Standort. Unter anderem wegen der Bevölkerungsstruktur wurde ein Ort im Norden der Republik favorisiert.
Neun Standorte kamen in die engere Wahl. Wegen der notwendigen Kühlung sollte das Werk an einem Gewässer entstehen. Bei einer weiteren Eingrenzung blieben drei Orte übrig: der Goldberger See östlich von Schwerin, der Tollensesee und der Stechlinsee. Genau genommen war es eine Landzunge zwischen dem Nehmitz- und dem Stechlinsee. Aber es gab auch Bedenken, ein solches Werk in einem Naturschutzgebiet zu errichten. Doch letztlich sprachen die geringe Besiedlung des Gebietes, die Entfernung zu einer größeren Stadt und das Vorhandensein von geeignetem Kühlwasser für Rheinsberg. Lediglich ein Fischer und eine Gaststätte mussten weichen.
Ausführlich berichtet Stude über den Bau des Werkes. Es entsteht eine Bahnstrecke von Rheinsberg zur Baustelle am Nehmitzsee, auf der Baumaterialien und später auch Arbeiter befördert werden. Dennoch ist die Errichtung des Werkes mit zahlreichen Widrigkeiten verbunden: Da es sich um das erste Werk dieser Art handelt, ist alles neu. Oftmals fehlt es an Bauzeichnungen, die Projektierung erfolgt fließend. Materiallisten erweisen sich als fehlerhaft oder unvollständig. Hinzu kommt die oftmals mangelnde Qualifikation der Bauarbeiter.
Betriebsstart am „Tag des Sieges“
Am 9. Mai 1966 endlich erfolgt mit viel Aufwand die Inbetriebnahme des Kernkraftwerkes. Unter den Ehrengästen befinden sich zahlreiche Minister der DDR, aber auch Pjotr Abrassimov, der Botschafter der UdSSR, und der sowjetische Energieminister sind anwesend. Höchster Repräsentant ist das Mitglied des Politbüros der SED Alfred Neumann, der neben dem Werkleiter Karl Rambusch (1918-1999) den Knopf drücken darf. Der 9. Mai wurde nicht willkürlich gewählt, er wird in der Sowjetunion als Tag des Sieges über die Naziherrschaft gefeiert.
Doch die Inbetriebnahme nach neun Jahren Bauzeit ist ein Scheinereignis. „Gleich am nächsten Tag wird der Reaktor wieder heruntergefahren“; schreibt Sebastian Stude. Der Dauerbetrieb startet erst am 12. November. Die Kosten belaufen sich rund 400 Millionen Mark. Der in der Sowjetunion hergestellte Druckwasserreaktor mit einer Leistung von 70 Megawatt sollte eigentlich schon früher in Betrieb gehen. Die Fertigstellung des Werkes musste jedoch wegen mangelnder Unterlagen, nicht pünktlich gelieferter Bauteile, fehlender Arbeitskräfte und einer Vielzahl anderer Gründe mehrfach verschoben werden.
„Aus einer Vielzahl von Gründen wurde die Fertigstellung des Werkes immer wieder verschoben.
Dennoch war die Inbetriebnahme zumindest formell ein Sieg im Wettbewerb mit dem sogenannten Klassenfeind. Die BRD ist zur selben Zeit dabei, das Kernkraftwerk Gundremmingen zu errichten. Es geht am 1. Dezember 1966 in Betrieb und liefert am 12. April erstmals Strom. Der Bau nahm nur halb so viel Bauzeit in Anspruch wie beim Rheinsberger Werk. Auch bei den Kosten von 345 Millionen Mark, allerdings in harter Währung, liegt die BRD vorn. Was die Leistung betrifft, liefert der Siedewasserreaktor in Gundremmingen 250 Megawatt.
Die Stadt Rheinsberg nahm durch den Bau des Kraftwerkes eine positive Entwicklung. Bis 1959 entsteht ein Kulturhaus mit Großküche, geplant für bis zu 1000 Personen. 1962 finden darin rund 100 Veranstaltungen statt. 1967 übernimmt die Gewerkschaft das Kulturhaus, in dem dann Urlauber verpflegt werden.
Aber nicht nur auf dem Gebiet der Kultur sorgt das Kernkraft für eine neue Lebensqualität im relativ kleinen Rheinsberg. Mit dem Bau des Kernkraftwerkes wächst kontinuierlich die Zahl der Einwohner. Neben ingenieurtechnischem Personal, das meist aus südlichen Regionen der Republik nach Rheinsberg kommt, sind das gelernte und ungelernte Arbeiter, die auf der Baustelle und im Werk dringend benötigt werden. Während zuerst Baracken als Unterkünfte dienen, entstehen in den Folgejahren einige hundert Neubauwohnungen. Noch heute sprechen die Einheimischen von der KKW-Siedlung, die am östlichen Ortseingang entstand. Und mit dem Feriendienst der Gewerkschaften entwickelte sich auch der Tourismus in der Region, was zur Folge hatte, dass der Stadt Rheinsberg 1968 der Status als staatlicher Erholungsort zuerkannt wurde.
Sicherheit und Wirtschaftlichkeit
Das KKW Rheinsberg mit seiner neuen Technik ist ein „industrielles Lehr- und Versuchskraftwerk“. Es gibt eine Forschungsabteilung, die sich mit Themen der Zukunft der Kerntechnik , der Reaktorsicherheit und Dosimetrie beschäftigt. Ein heikles Thema bleibt die Sicherheit. Von 1966 bis 1990 wurden 484 Störfälle registriert. Allgegenwärtig wacht das Ministerium für Staatssicherheit über das Geschehen im Kernkraftwerk. Es gibt Offiziere der Stasi, aber auch Zuträger aus den Reihen der Beschäftigten. Das Werk steht unter ständiger Beobachtung durch die Partei und die Geheimpolizei.
Nach einer erneuten Stilllegungsphase und der Erkenntnis, das eine Laufzeitverlängerung mit enormen Kosten verbunden wäre, fällt am 12. November 1990 die Entscheidung, das Rheinsberger Werk stillzulegen. Die Stromerzeugung war sehr kostenaufwendig, zudem gab es erhebliche Sicherheitsbedenken. Ein Großteil der Kernkraftwerker, viele davon stolz auf ihr Werk, verlieren ihren Arbeitsplatz. Einige wenige Spezialisten gehen daran, das Werk zu demontieren.
Gegenüber dem Buch ist bei den Ex-Kraftwerkern eine gewisse Skepsis zu spüren. Siegfried Schweitzer etwa, viele Jahre Leiter der Anlage, bemerkt bei einer Vorstellung von Studes Buch, dass die Atompolitik heute in der BRD eine subjektive Bewertung erfahren würde.
Eine Anti-Atom-Bewegung hat in Rheinsberg nie eine Rolle gespielt. Das Kernkraftwerk war ein wichtiger Arbeitgeber. Mit dem Bau entwickelte sich die Kleinstadt zu einem kulturellen, wirtschaftlichen und touristischen Zentrum. Autor Stude legt jedoch anhand heute verfügbarer Daten dar, dass das Werk nicht rentabel war. Die Betriebskosten seien höher gewesen als der Nutzen.
[Bildunterschriften:]
[oben:] Ein Termin nur für die Öffentlichkeit: die feierliche Inbetriebnahme des Atomkraftwerkes am 9. Mai 1966 Foto: Archiv Kernkraftwerk Rheinsberg
[links unten:] Hinterlassenschaften im Naturschutzgebiet: ein Blick auf das denkmalgeschützte Verwaltungsgebäude des Kraftwerkes
[Mitte/rechts:] Ein Abschied: Abtransport radioaktiver Abfälle aus dem stillgelegten Atomkraftwerk in Rheinsberg Fotos (2): Jürgen Rammelt
[unten rechts, Buchcover:] Sebastian Stude: „Roter Strom. Die Geschichte des Kernkraftwerkes Rheinsberg 1956-2000“, Mitteldeutscher Verlag, 396 S., 48 Euro